Wildkorridore

Wetzlarer Neue Zeitung v. 12.1.2018 (S. 16)

Von Pascal Reeber

Straßen fördern Inzucht

Natur  Studie untersucht Hürden für genetischen Austausch bei Rotwild

Wettenberg/Lahnau/ Wetzlar Wetzlar, Gießen, die Autobahn 5: Das sind die großen Hürden für Wildtiere in Mittelhessen. Zahlen belegen jetzt die Folgen der menschengemachten Barrieren.

Das Dill-Bergland, das Lahn-Bergland, der Nördliche und der Hohe Vogelsberg und schließlich der Krofdorfer Forst: Das sind die fünf zentralen Rotwildgebiete in Mittelhessen. Seit jeher sind sie verbunden, auf Fernwanderwegen zieht es vor allem junge Tiere von der einen zur anderen Population. Der Austausch erhöht die genetische Vielfalt, macht die Populationen „fitter“, wie der Gießener Professor Gerald Reiner sagt. Fitter im Sinne von „weniger anfällig für Erkrankungen“ oder „besser an die Lebensbedingungen angepasst“.

Doch die Fitness schwindet. Lebensräume und Wanderwege des Wildes werden von Siedlungen und Straßen zerschnitten. Wenn links und rechts einer Autobahn je eine Gruppe Wildschweine lebt, dann sei die trennende Wirkung der Straße so groß, als lebten beide 200 Kilometer voneinander entfernt, veranschaulichte Reiner am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Wettenberg.

278 Proben belegen den Rückgang des Austauschs: Betroffen ist besonders der Krofdorfer Forst

Deren Anlass war die zweite genetische Untersuchung am Rotwild in Mittelhessen. Die genetische Verarmung dieser Tiere war bereits in einer früheren Untersuchung belegt worden. Nun ergründeten Reiner und seine Kollegen an 278 Proben von Tieren, wie stark der genetische Austausch zwischen den Rotwildgebieten in der Region noch ist. Das Ergebnis: „Die Achse Wetzlar–Gießen–Autobahn 5 unterteilt die mittelhessischen Populationen in zwei Unterpopulationen.“ In Zahlen: Während zum Beispiel der Austausch zwischen dem Dill-Bergland (bei Dillenburg) und dem Lahn-Bergland (bei Gladenbach) noch zu fast 70 Prozent funktioniert, liegt der Austausch zwischen dem Krofdorfer Forst und dem Vogelsberg bei unter zehn Prozent. Dazwischen verläuft die A 5. Auch die B 3 unterbreche den genetischen Austausch. Besonders im eher kleinen Krofdorfer Forst sei ein starker Inzuchtzuwachs zu verzeichnen. Oder in einfachen Worten: Das Wild, das sich dort paart, ist oft verwandt. Eine Folge davon könne ein Rückgang der Fruchtbarkeit sein, erläuterte Reiner.

Was tun? Die Rotwildhegegemeinschaften erstellen aktuell Lebensraumgutachten über die von ihnen betreuten Gebiete. Darin fließen Reiners Ergebnisse ein. Mit ihrer Hilfe könne man dann ganz konkrete Verbesserungen vorschlagen, sagt Klaus Schwarz von der Rotwildhegegemeinschaft Krofdorfer Forst. Dabei geht es vor allem um Leitstrukturen für die Tiere. Die nach wie vor vorhandenen Fernwanderwege zwischen den Gebieten sollen passierbar und attraktiv gemacht werden. Wo Straßen die Wege unterbrechen, könnte das mit Grünbrücken geschehen. Dazwischen benötige das Wild Waldstücke, in denen es Nahrung finde und sich sicher fühle. „Gerade Schutz spielt für Wild eine große Rolle“, sagte Schwarz. Von Verbesserungen solle dabei nicht nur das Rotwild profitieren, sondern auch andere Arten, etwa die Wildkatze.

Bei den Ergebnissen aus Mittelhessen soll es übrigens nicht bleiben: Die Forscher um Professor Reiner sind aktuell dabei, Proben aus ganz Hessen zu analysieren. Herauskommen soll eine zusammenfassende Untersuchung, die den Austausch zwischen allen etwa 20 Rotwildgebieten des Landes aufzeigt und auch hier Problemstellen benennt.

Zudem stellt Klaus Schwarz Forderungen an das Land als Jagdgesetzgeber: Aktuell schreibe das Gesetz den Abschuss ein- bis vierjähriger Hirsche vor, die sich außerhalb der Rotwildgebiete befänden. „Das sind aber gerade die Jungtiere, die wandern“, sagte Schwarz.